Donnerstag, 12. Januar 2023

Endlich! Oder: Die Schönheit der Vergänglichkeit

Vorwort
Im Geflecht des Lebens, mit all seinen großen Zielen, schweren Entscheidungen, erbitterten Feind- und engen Freundschaften, mit all jenen ungerechten Widerständen, den dramatischen Kämpfen und triumphalen Siegen, der großen Liebe und dem lachenden Glück, in diesem dichten Geflecht, zwischen all diesen Dingen, da gibt es einen zentralen Faden, einen Handlungsstrang, der all diese Elemente in der jeweiligen Geschichte miteinander verbindet. Und sei es, dass diese Geschichte kein Werk der Fiktion ist, sondern nur etwas, was wir anderen oder uns selbst erzählen.
Wir können uns verweigern, so sehr wie wir wollen, mit aller Vehemenz, mit klugen und mit dummen Argumenten, uns in eskapistische Fantasien flüchten, wir werden nicht darum herum kommen, akzeptieren zu müssen, dass alles eine Geschichte hat und mehr noch, dass alles zu einer Geschichte wird. Unsere komplex verworrene, widersprüchliche Wirklichkeit kann gar nicht anders als durch vereinfachende Abstraktionen verstanden werden, unserem begrenzten Geist sind andere Möglichkeiten verwehrt. Wir verbinden deshalb wahllos willkürliche Punkte, erschaffen Bedeutungen, die nur für uns existieren, kurz: deshalb erzählen wir Geschichten und erklären uns mit diesen die Welt.
Wir können nicht aufhören zu erzählen, in einem endlosen inneren Monolog erzählen wir uns Geschichten über uns selbst, manche davon sind wahr, einige nur ein bisschen, einige überhaupt nicht. Wir alle sind Fiktion, aber dass glauben wir nicht weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.1

Diesen simplifizierten Erzählungen, diesen Erklärungsversuchen, wie dieser Beitrag einer ist, liegt denn immer auch ein narratives Element – ein roter Faden – zu Grunde, der sich vom Beginn zum Ende hinweg spinnt. Wie der Schicksalsfaden der Moiren in der griechischen Mythologie ist dieser zentrale Strang jedoch im individuellen Wollknäul einer Geschichte häufig erst im Nachhinein wirklich zu entwirren. Die tragende Bedeutung wird diesem zentralen Faden jeweils erst durch den Blick zurück verliehen.

In einem alten meiner Blogeinträge heißt es:
Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den anderen Satz, dass vorwärts gelebt werden muß.2
Und es sind gerade solche Momente, Momente der Realisation, Momente, an denen alles zuvor Geschehene in einem kolossalen Spektakel oder aber in einer vollkommen banalen Geste gipfelt, die einige der eindrücklichsten Szenen im Animationsmedium geschaffen haben. Augenblicke, die alles Vorherige sinnstiftend miteinander verbinden und dem gesamten Werk hierdurch rückblickend, in diesem jeweils entscheidenden Moment, seine eigentliche Bedeutung verleihen.
Solchen Szenen und dem retrospektiven Blick, der durch die jeweiligen Geschichten eingenommen wird, ein bildhaftes Erinnern gewissermaßen, liegt immer auch eine implizite Dualität zugrunde. Eine Dualität, die die Geschichten vollständig durchdringt, wie es der rote Faden, der zentrale Erzählstrang, jeweils tut.
Das Licht der Betrachtung, welches durch uns, das Publikum, auf das entsprechende fiktive Werk geworfen wird, lässt erst den Kontrast zwischen diesem Faden - diesen Strang - und dem immer gleichen Hintergrund, vor dem er gewoben wurde, sichtbar werden. Und es braucht einen solchen Kontrast, damit die Bedeutung des einen in der Abgrenzung zum anderen fassbar wird. Dieses Dahinterliegende bildet nicht nur den metaphorischen Hintergrund bei Millenium Actress, Shouwa Genroku Rakugo Shinjuu, Kaiba, Heike Monogatari, Nana, Tatami Galaxy oder vielen anderen Titeln, sondern stellt im Grunde auch die Rückwand aller meiner Beiträge dar. Ich würde sogar weitergehen und behaupten, dass dieser Sachverhalt, diese Dualität, einfach allem zu Grunde liegt. Um jedoch letztlich bei diesem Gedanken anzukommen und erklären zu können, was ich damit meine, dafür, dafür muss ich etwas ausholen, also folgt, wenn ihr mögt, meinen Ausführungen und diesem Blogeintrag – oder aber: lasst es bleiben.

Widmung
In schmerzhaft schwerer und freundschaftlich schöner Erinnerung an Patrick W.
Du hattest immer an die Schönheit langer Nächte,
an die Einzigartigkeit kleiner Cafés,
an den Zauber guter Literatur
und an die Kraft schlechter Filme geglaubt,
aber zuletzt nicht mehr an dich.

Dieser Blogeintrag wird sich in seinen Ausführungen überwiegend mit einem zwölfminütigen Kurzfilm beschäftigen, insbesondere mit seiner dreißig Sekunden dauernden Endsequenz, die meist als überaus traurig wahrgenommen und beschrieben wird, der gegenüber mein Empfinden allerdings genau gegenteilig gelagert ist. Doch selbstverständlich werde und kann ich nicht nur diesen einen Anime thematisieren, denn wenn hier etwas zur Sprache kommt, dann gilt dies nicht nur für ein Werk, sondern auch für viele andere, denn inzwischen wissen wir ja, dass das, was erzählt wird, selten neu ist, wie es erzählt wird, dagegen schon eher.
Picture the person you love the most. Picture them sitting on the couch, eating cereal, ranting about something totally charming. Like how it bothers them when people sign their emails with a single initial instead of just taking those four extra keystrokes to finish the job––
Chaos will get them.
Chaos will crack them from the outside––with a falling branch, a speeding car, a bullet––or unravel them from the inside with the mutiny of their very own cells. Chaos will rot your plants and kill your dog and rust your bike. It will decay your most precious memories, topple your favorite cities, wreck any sanctuary you can ever build.
It’s not if, it’s when. Chaos is the only sure thing in this world. The master that rules us all. My scientist father taught me early that there is no escaping the second law of thermodynamics. Entropy is only growing, it can never be diminished, no matter what we do.3

 

Kapitel 1: pulvis et umbra sumus4
(Staub und Schatten sind wir)
Der Tod ist unausweichlich. Keine Wünsche, keine Träume, keine Pläne, keine Aktivitäten, keine Zwangshandlungen, keine Zukunftsvisionen können ihn verhindern. Sie können allenfalls seinen frühen Eintritt in unser Leben hinauszögern, können die verabredete Begegnung vielleicht auf einen späteren Termin verschieben, aber niemals aufhalten. Wir vermögen nichts hiergegen; Freundschaft, Liebe, Gesundheit, Reichtum, Macht, Ruhm, die Welt, das Universum, ich und du, alles ist vergänglich. Um es mit Rainer Maria Rilke zu sagen: Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen /5
Mit dieser unausweichlichen Endgültigkeit wird auch der alte Mann, die Hauptfigur im zwölfminütigen Animationskurzfilm La Maison en Petits Cubes, im Japanischen Tsumiki no Ie, konfrontiert und so auch wir, das Publikum. Wir sehen ihn zuerst als er, während er Pfeife raucht, sich alte, an der Wand hängende Fotografien, von Zeiten, die inzwischen unwiederbringlich vergangen sind, besieht. Das Land, auf dem er einst aufwuchs, auf dem er seine Frau als noch junges Mädchen kennenlernte, die Stadt, in der er einst mit seiner Frau seine Tochter heranwachsen sah, ehe diese heiratete und fortzog, diese Gegend, sie wird vom beständig steigenden Meeresspiegel verschlungen. Viele Häuser der Nachbarschaft sind inzwischen verlassen, seine Frau inzwischen verstorben. Um dem immer weiter und weiter steigenden Wasser zu entkommen begann man vor Jahrzehnten damit höher gelegene Stockwerk auf die eigenen Häuser zu bauen. Viele der steinernen Bauten an diesem Ort sind dennoch inzwischen unbewohnt, viele Personen weggezogen, viele gestorben. Nun stapeln sich, unterhalb des Wassers bauklotzgleich Stockwerke auf Stockwerke, sind aus den einst kleinen Gebäuden gewaltige Türme entstanden, reichen Erinnerungen von der Oberfläche weit hinab in die halbvergessenen Tiefen des Ozeans.
Das Ende ist unausweichlich. Dieser Ort, diese Gebäude, die Menschen, sie werden vergehen, größtenteils sind sie bereits fort, und schließlich werden das Wasser und die Zeit sie allesamt verschlungen haben. Die zunehmende Unausweichlichkeit dieses Umstands wird uns, dem Publikum, mit jeder verstreichenden Minute bewusster, es gibt keinen Ausweg, nur eine Vergangenheit. In wenigen Werken ist das Endliche als jene rückwärtige Leinwand, als jenes künstlerische Abbild der universellen Sterblichkeit, derart offenkundig im vordergründigen Schleier der Geschehnisse auszumachen, wie in diesem Kurzfilm. In vielen anderen Animetiteln ist das Endliche zwar mehr oder weniger prominent zugegen, seien es die bereits zuvor erwähnten, seien es Filme, wie Angel's Egg, Prinzessin Kaguya, Mind Game, Penguin Highway oder Children of the Sea, oder Serien, wie Uchouten Kazoko, Sonny Boy, Arjuna, Cyberpunk: Edgerunners, Trigun, Cowboy Bebop, Highschool of the Death oder wie sie alle heißen mögen.
Doch wenn das Endliche im jeweiligen Werk zugegen ist, wird es meist als solches entweder nur implizit erwähnt, ist nur zwischen den Zeilen auszumachen, oder aber es wird dort bewusst als eine durchschlagende Erkenntnis oder gar als dramatischer Wendepunkt inszeniert, anders hier.
Diesen unausweichlichen Sachverhalt, diese rückwärtige Leinwand, könnte man wie folgt beschreiben:
Angesichts des Todes zum Beispiel, wenn unser Sein als solches sich scharf vor dem Hintergrund des Nichts (nihil) abzeichnet, und Fragen auftauchen, wie: ‚‚Wozu habe ich überhaupt gelebt?‘‘ – ‚‚Woher komme ich, und wohin gehe ich?‘‘, dann gähnt eine Leere, die sich durch nichts in der Welt
füllen läßt. Ein Abgrund tut sich im Grund unserer Existenz auf. Angesichts dieses Abgrunds taugen die Dinge nichts mehr, die bisher die Inhalte unseres Lebens ausgemacht haben. Dieser Abgrund liegt indessen eigentlich immer schon unserer Existenz zugrunde. Der Tod zum Beispiel ist nicht etwas, dem wir vielleicht in ferner Zukunft begegnen. Auf Schritt und Tritt begegnet unser Leben dem Tod; immer schon steht es mit einem Fuß im Reich des Todes. Stets am Rande eines Abgrunds, kann es in einem Nu zunichte werden. Unser Dasein ist eigentlich zusammen mit Nicht-Sein entstandenes Sein. […] Das heißt, unsere Existenz ist eine flüchtige Existenz. Dieses Nichts macht den Sinn des Lebens sinnlos. Daß wir uns also selbst zu einer Frage werden und nach dem Wozu unserer Existenz fragen, zeigt an, daß das Nichts vom Grund unseres Seins her aufgetaucht ist, und daß wir von daher dazu getrieben werden, daß sich unser Dasein für uns selber in ein Fragezeichen verwandelt. Das Auftauchen dieses Nichts ist nichts anderes als die Vertiefung des Gewahrwerdens unseres eigenen Seins – welches gewöhnlich keine solche Tiefe erreicht. Gewöhnlich bewegen wir uns unaufhörlich vorwärts, den Blick auf das eine oder andere gerichtet. Immer sind wir mit etwas in uns oder außerhalb von uns beschäftigt, und dieses Beschäftigtsein steht jenem Gewahrwerden im Weg, von dem wir gerade gesprochen haben. Es verstellt uns die Möglichkeit, daß jener Horizont sich auftut, innerhalb dessen wir aus unserem Dasein eine Frage werden lassen können.6
Dieses Zitat aus dem ersten Kapitel von Keiji Nishitanis Was ist Religion?, welches ich in einem früheren Beitrag bereits in anderer Gewandung verwendete, verweist zugleich auf folgenden, weiteren Aspekt, der angesichts der Vergänglichkeit uns offenbar wird.
CAITLIN DOUGHTY: [...] you will die, and that's the most important thing.
JAD ABUMRAD: Writer, mortician Caitlin Doughty.
CAITLIN DOUGHTY: And I think most people get that. I think most people get that they're gonna die, but I don't think what most people get is that the fact that they're going to die is the most important thing that will ever happen to them. Humans are one of the few creatures that understand death, and understand -- live -- live their whole lives with the knowledge of their deaths.7

Kapitel 2: sub specie aeternitatis8
(unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit)
Nichts ist von Dauer, nichts zählt, alles ist dem Untergang geweiht, das Individuum weniger als ein Staubkorn der Geschichte. Düstere Bedeutungslosigkeit frisst sich vom kalten Rand des sich beharrlich ausdehnenden Universums hinein in unser Sein. Eine düstere Bedeutungslosigkeit, die in ihrer Weite und ihrer Unbarmherzigkeit alle unsere Taten, alle unsere Gedanken und alle unsere Gefühle als völlig unbedeutend, absurd irrelevant und bedrückend unbeständig und uns selbst vollkommen niedergeschlagen zurücklässt.
Der alte Mann kann Steine und Stockwerke aufeinandertürmen, sie werden im Wasser versinken. Er selbst wird sterben und dann, dann wird nichts mehr von dem, was gewesen ist, noch bestehen,
kein Ding, keine Erinnerung, alles wird im gewaltig salzigen Nass des Vergessens verschwinden, alles wird die unabänderlich verstreichende Zeit zersetzen.
Wozu also einen Stein auf den anderen setzen? Wozu einen Gedanken fassen? Wozu den Mund öffnen und Worte formulieren, mit deren Klang das Sterben nur fortfährt? Wenn nichts davon überdauert, wenn alles stirbt, wenn da nur Schmerz ist, wozu dann weitermachen? Wenn alles in seiner Begrenztheit sowieso dem Ende entgegengeht, wozu ist es dann gut?
Und ja, alles zerfällt, das ist unausweichlich, aber darin, in diesem Zerfall, darin, dass alles zerfällt, darin liegt seine Schönheit, darin liegt sein Wert. Alles ist vergänglich und so auch wir. Ein grauenhaft dunkler Gedanke und zugleich eine grandios erfüllende Gewissheit.
Für gewöhnlich versuchen wir diese grauenhaft dunklen Gedanken zu verdrängen, diese Gedanken an Vergänglichkeit und Tod, sie auszublenden, sie aus unseren Sphären zu verbannen. Wir, das heißt: der moderne Mensch, wir versuchen sie nicht wahrzunehmen, sie zu veralbern, sie zu kompensieren, sie zu abstrahieren, ja sie zu sublimieren.
Wir erzählen uns Geschichten. Wir erzählen uns Geschichten gegen das Ungewisse, gegen die Angst und gegen das Nichts. Geschichten gegen die Bedeutungslosigkeit. Wir erzählen uns Geschichten von Liebe und Hass, erzählen von Schicksal und Zufall, von Kunst und Kultur und wir erzählen uns Geschichten von uns selbst und von anderen. Wir erschaffen uns hierdurch eine Ordnung, die wir – als Kollektiv, aber auch individuell – gegen das Chaos stellen. Backstein für Backstein, Erinnerung für Erinnerung, Wort für Wort, erschaffen wir – und in diesem Fall auch der alte Mann und seine Welt, erschaffen wir eine Ordnung, ein System, nach dem und durch das wir leben. Erschaffen wir uns selbst eine leichter verständliche Realität, die wir uns selbst und anderen erzählen. Wir erschaffen hierdurch eine Systematik, mit der wir die Gegebenheiten, um uns herum zu verstehen, zu begreifen, ja zu beherrschen suchen.
live their whole lives with the knowledge of their deaths. And so it's this conflict within us. We live in these shitty, decaying bodies, but we feel so special and we feel so important. So how do you reconcile those two things? It's hard to reconcile them, so you have to create, you have to transcend. You have to have religion, you have to have communities, you have to have art. Those are created by our -- our fear and our strange, difficult, weird relationship with death.9
Und was wir uns erzählen, was wir als Abbild aus dem Nicht schaffen, was von uns stammt, dass halten wir für wichtig, dem messen wir Bedeutung bei. Und diese Bedeutung, sie ist alles. Sie ist die Grundlage für unser Sein, der steinerne Turm der Vernunft im ewig wogenden Meer, die Routine eines Ichs im endlosen Wandel der Welt.
In Tsumiki no Ie, unserem Beispiel Anime, wird diese Bedeutung in der Sehnsucht alter Fotografien, der Bequemlichkeit vertrauter Dinge und der Gewissheit geschaffener Erinnerungen offenbar. Es sind die Alltagshandlungen, die dem Leben des alten Manns seine Struktur verliehen und verleihen. Es ist die erlebte und die gelebte Zeit, mit all ihrer Begrenztheit, mit all ihren wunderbar einmaligen Augenblicken, die sein Dasein zu seinem Dasein macht.
Sie werden überrascht sein, mich auf Ihre Frage, woran ich glaube oder was ich am höchsten stelle, antworten zu hören: es ist die Vergänglichkeit. – Aber die Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden Sie antworten. – Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins, sie ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht, denn sie schafft Zeit, – und Zeit ist, wenigstens potentiell, die höchste, nutzbarste Gabe.10
Das Leben des alten Mannes, sein bisheriges Sein in der Begrenztheit von Raum und Zeit, es hat ihn an diesen Punkt geführt. Zwischen Entscheidungen und Zufällen erschuf er sich, gemeinsam mit anderen und allein für sich selbst, erschuf er sich und Erinnerungen. An allen Gegenständen, da haften sie, die Momente früherer Jahre, das Gewesene von einst, das vom Damals bis tief ins Heute führt, da haften Zauber und Schönheit vergangener Tage, die konservierte Einmaligkeit des Erlebten.
Schreibend halte ich mich am Leben und überlebe. Jeden Tag wieder. Ich schreibe, um diese unglaubliche Gelegenheit am Leben zu sein ganz genau wahrzunehmen und zu feiern. Ich schreibe um einen Sinn zu finden, obwohl es am Ende wahrscheinlich keinen gibt. Wir sind alle Geschichtenerzähler, vielleicht macht uns das zu Menschen.11

Kapitel 3: omnes mundum facimus12
(wir alle machen die Welt)
Wenn also der alte Mann am Schluss dieses Kurzfilms seiner verstorbenen Gattin Rotwein einschenkt. Er diesen Rotwein in ein Weinglas gießt, das er wieder aus den Tiefen des Meers, aus den Tiefen seines Gedächtnisses hinauf geholt hat, vollzieht er diese Handlung nachdem er dem Haus, das er einst gemeinsam mit seiner Frau errichtete, eine weitere Etage hinzugefügt hat.
Dass der alte Mann seiner nicht mehr lebenden Frau Wein einschenkt und hierauf einsam und für sich mit ihrer Erinnerung anstößt, mag zwar auf den ersten Blick traurig erscheinen, ist es in meinen Augen jedoch nicht. Denn auf was genau stößt er denn da an?
Er stößt auf das wieder um ein Stockwerk erhöhte Haus an, er stößt auf seine Frau an, mit der er dieses Haus zu bauen begann, die er liebte, mit der er eine Tochter bekam, er stößt auf diese gemeinsamen Jahre an, er stößt darauf an, was alles von ihr und ihm mit der Zeit geschaffen wurde, und damit stößt er schließlich auf sein bisheriges Leben selbst an. Und dieses auf das eigene Leben anstoßen, dieser Blick zurück, auf alles was gewesen ist, dieses Erinnern, nimmt sich hier Zeit, wird als ein bewusster Akt früherer Jahre reproduziert, eine Freudengeste von einst, und ist damit eine Würdigung all dieser Dinge.
Und hierin liegt auch der Grund, weshalb er weiter am Haus baut und es nicht etwa, wie andere einfach verlässt, weshalb er das Weinglas mit hinaufnimmt, weshalb an den Wänden alte Fotografien hängen, er schätzt wert, er bewahrt, er setzt fort, was einst von ihnen gemeinsam begonnen worden ist – und damit schreibt er sich, seinem bisherigen Leben und seiner verbleibenden Lebenszeit einen Sinn zu. Und der Schmerz des Verlusts, er beherrscht nicht die Schönheit der Erinnerung. In der eigenen Erzählung wird alles wieder lebendig und wenn diese erzählten Erinnerungen noch mit anderen Menschen geteilt werden können, umso besser, dann
erschafft man sich gemeinsam und nicht nur allein ein Jetzt.
In Heike Monogatari wird dieser Umstand und die Tradierung des Erlebten wie folgt in Worte gefasst:
Our clan shall live on in that story. That story begins like this: The Buddhas's temple bells toll the message... that all existence is impermanent. The sal tree's blossoms turn white to grieve him. A reminder that all who flourish must fall. Indulgence does not last. It shall but be like a spring night's dream.13

 

I finally understood, in a visceral way, there isn't a simple way out of grief. What there is, is people - sitting with them, listening to them while they're still here for as long as you can.14
Was der alte Mann tut und was wir tun, ist dem Tod das Leben entgegenzustellen, dem Nichts den Genuss, den Liebreiz, den Rausch der Existenz. Wir erhöhen uns durch unsere Erzählungen, wir bewahren uns durch sie die schon erlebte Vergangenheit und schließlich entwickeln wir durch unsere Handlungen und Taten ein Gefühl etwas verändern zu können. Wir schaffen, bewahren, zerstören - Dinge, Beziehungen, uns selbst und andere. Hierdurch, durch das Schaffen, das Bewahren und das Zerstören, meinen wir der allgewaltigen Ohnmacht der endlosen Vergänglichkeit etwas wie eine eigene Handlungsmacht entgegensetzen zu können. Aber dennoch rumort es weiterhin unaufhörlich in uns und unserem Denken, diese Dualität, rumort diese Gewissheit, dass wir Sterben werden und nichts von uns und unseren Taten überdauern wird, aber gleichzeitig ist da auch diese Freude am Kreieren, diese Freude am Austausch mit anderen, diese Freude an unseren Sinnen und wie wir sie reizen, diese Freude an den unvergleichlichen Wundern des Universums und des Lebens.
Human beings make live so interesting. Do you know, that in a universe so full of wonders they have managed to invent boredom. Quite astonishing.15

Nachwort: horto recreamur amoeno16
(Wir erholen uns im lieblichen Garten)
Der alte Mann schreibt sich mit der Geschichte, die er sich selbst von sich und der Welt bis hierhin erzählt hat, einen Sinn zu. Es sind die wertvollen Erinnerungen, das eigene Schaffen, die Gaumenfreuden und Genüsse, der jetzt zwar nur noch sporadische, aber dennoch gegebene Austausch mit anderen sowie die unumstößliche Gewissheit, dass wenn letztlich alles egal ist, er niemandem irgendetwas beweisen muss, er sich für die Dinge einsetzen kann, die ihm wichtig erscheinen, er einfach tun kann, was ihn glücklich macht und sei es nur in den Fernseher zu starren, Pfeife zu rauchen, zu angeln oder sich mit den Möwen zu unterhalten, die sein Leben ausmachen sowie ihm und seiner verbleibenden Zeit jene selbst zu geschriebene (und es gibt keine andere) Bedeutung verleihen. Und in diesem Sinne ist auch ein Zitat zu verstehen, das wohl fälschlicherweise Martin Luther angerechnet wird: "Wenn morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen."17
... Susan: All right. I'm not stupid. You're saying humans need... fantasies to make life bearable.
Death: NO. HUMANS NEED FANTASY TO BE HUMAN. TO BE THE PLACE WHERE THE FALLING ANGEL MEETS THE RISING APE.
Susan: With Tooth fairies? Hogfathers?
Death: YES. AS PRACTICE. YOU HAVE TO START OUT LEARNING TO BELIEVE THE LITTLE LIES.
So we can believe the big ones?
YES. JUSTICE. MERCY. DUTY. THAT SORT OF THING.
They're not the same at all!
YOU THINK SO? THEN TAKE THE UNIVERSE AND GRIND IT DOWN TO THE FINEST POWDER AND SIEVE IT THROUGH THE FINEST SIEVE AND THEN SHOW ME ONE ATOM OF JUSTICE, ONE MOLECULE OF MERCY. AND YET— AND YET YOU ACT AS IF THERE IS SOME IDEAL ORDER IN THE WORLD, AS IF THERE IS SOME...SOME RIGHTNESS IN THE UNIVERSE BY WHICH IT MAY BE JUDGED.
But people have got to believe that, or what's the point?
YOU NEED TO BELIEVE IN THINGS WHICH AREN'T TRUE, HOW ELSE CAN THEY BECOME?18
Solche Sinnzuschreibungen sind in vielen der in diesem Blogeintrag bereits flüchtig erwähnten Werke vorhanden, mitunter werden derartige Aussagen allerdings auch direkt von Figuren des entsprechenden Animes artikuliert, beispielsweise von Chiyoko Fujiwara am Ende von Millenium Actress, von Rajdhani in Sonny Boy, von Hitori in ihren Liedtexten in Bocchi - The Rock!! oder von Yasaburou in Uchouten Kazoku, um hier nur die offensichtlichsten zu nennen.
Wir schnipsen zwei-, dreimal mit den Fingern und dann sind wir tot und warten im Sonnenaufgang auf das Morgenrot. Wir mal ein X mit Kreide an die Stelle, an der wir früher standen, egal wie klein wir morgen sind, heute Nacht sind wir Giganten.19

Und während Thees Uhlmann, der zum Tanzen lädt, singt, dass "[d]as Leben [...] vielleicht die Summe aus verpassten Chancen"20 ist, höre ich von den Ärzten: 

Der Himmel ist blau und der Rest deines Lebens liegt vor dir / Vielleicht wär es schlau, dich ein letztes Mal umzuseh'n / Du weißt nicht genau, warum - aber irgendwie packt dich die Neugier/ Der Himmel ist blau, und der Rest deines Lebens wird schön.21


1 - Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben, S. 9 f. 
2 - Søren Kierkegaard: Die Tagebücher, S. 203.
3 - Lulu Miller: Why Fish Don’t Exist. A Story of Loss, Love, and the Hidden Order of Life, S. 3. 
4 - Horaz: Carmina.
5 - Rainer Maria Rilke: Schlussstück.
6 - Keiji Nishitani: Was ist Religion?, S. 42 f. 
7 - Radiolab: The Cataclysm Sentence, 17:03-18:05. 
8 - Spinoza: Ethica odrine geometrico demonstrata. 5. Teil, 29. Lehrsatz.
9 - Radiolab: The Cataclysm Sentence, 17:03-18:05.
10 - Hermann Kurzke und Stephan Stachorski (Hrsg.): Thomas Mann: Essays. Band 6: Meine Zeit 1945-1955, S. 219. 
11 - Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben, S. 9. 
12 - Matt Ruff: Bad Monkeys, S 45.
13 - Heike Monogatari, Folge 11. 
14 - Radiolab: The Queen of Dying. 
15 - Terry Pratchett: Hogfather (Film). 
16 - Simon Dach: Horto recreamur amoeno. 
17 - Zitiert nach: Johannes John: Reclams. Zitaten-Lexikon, S. 28.
18 - Terry Pratchett: Hogfather (Film). 
19 - Thees Uhlmann: Katy Grayson Perry, 00:10-00:31.
20 - Thees Uhlmann: Katy Grayson Perry, 0:12-01:16. 
21 - Die Ärzte: Himmelblau, 00:24-00:48.

Dienstag, 1. November 2022

Die Bildsprache der Vögel im „Garten der Lüste“

Ob als zentrales Motiv oder als vage Andeutung im Hintergrund, Vögel sind in einer Vielzahl von Gemälden und Bildnissen, gleich aus welcher Zeit diese stammen, zu finden. Im jeweiligen Bild können sie eine einfache Staffage oder aber ein komplexes mythologisches beziehungsweise religiöses Symbol sein. Um diese Vielschichtigkeit ihrer Bildsprache exemplarisch für zumindest einige Vogelarten zu erläutern, werden dieser und zwei weitere Gastbeiträge insgesamt neun Vögeln etwas genauer auf ihr Gefieder schauen.  - picti mundi -  

 

Die Bildsprache der Vögel im Garten der Lüste  

Hieronymus Boschs „Der Garten der Lüstelässt sich typologisch in die Kategorie der Altartryptichen verorten. Auf dem linken der drei Altarflügel ist der Garten Eden dargestellt mit Gott, Eva und Adam, der mittlere thematisiert das Paradies und der rechte die Hölle.1 Die Interpretation des Werkes ist bis heute umstritten und eine einheitliche Meinung hat sich bisher nicht durchgesetzt. Gemeinhin ist man sich jedoch einig, dass es sich bei dem Werk um eine phantasievolle Szenerie handelt und keine reale Welt, wie der Bezug zum Paradies ja auch schon verrät. Es scheint eine Welt der freudenhaften Ausschweifungen des Lebens zu sein, die sich in der Unbekümmertheit und Lasterhaftigkeit der Protagonisten zu äußern scheint.2 Durch die Beziehung der dargestellten Menschen und der Tiere scheint eine gewisse Symbiose generiert zu werden, wie die Vögel, die verschiedene Menschen füttern, Fische, die fliegen oder sich von Menschen tragen lassen, Menschen, die sich in Muscheln verkriechen und zwischen die Beine eines Vogels drängen.3 Der Punkt, den Hieronymus möglicherweise in den Vordergrund rücken wollte, ist die Beziehung des Menschen zu sich selbst und der Natur. Ebendiese Betrachtung gilt auch für die Vögel, deren Mensch-Tier-Beziehung und ihre Symbolik in der Bildenden Kunst im Folgenden genauer erfasst werden soll. Hierbei werden die Symbole der abgebildeten Vogelarten Rotkehlchen, Grünspecht, Wiedehopf, Ente und Eisvogel im Vordergrund stehen und deren literarische Herkunft und Entwicklungen. Die Vögel, die hier genauer betrachtet werden sollen, sind alle im mittleren Altarflügel, dem so genannten „imaginären Paradies4 zu finden, wenngleich Vögel im gesamten Triptychon abgebildet werden.

Die Darstellung des Distelfinken im christlichen Zusammengang ist bereits ausführlich erläutert worden und wird an dieser Stelle nicht mehr aufgegriffen. Seine Bedeutung als Heiligenattribut Marias und Christus und vor allem im Zusammenhang mit seiner Tugendhaftigkeit und der Verbindung zum Wasser des Lebens scheinen hier aufgegriffen worden, da er die hungrig erscheinenden Menschen mit Nahrung versorgt. Die gräuliche Färbung der Personen steht möglicherweise für ihre Sünden und die Brombeeren für die süße Gnade Gottes. So könnte man sich sicherlich das Vorkommen des Distelfinken in diesem Werk erklären. Es sein angemerkt, dass dies nur eine mögliche Interpretation von vielen ist.  

Das Rotkehlchen 

In der Bibel wird das Rotkehlchen nicht erwähnt, jedoch lässt es sich durch eine alte wallonische Sage durchaus mit einer christlichen Ikonographie verbinden. Denn laut dieser Sage versuchten Rotkehlchen den Blutfluss des am Kreuz hängenden Jesus zu stillen, was ihnen jedoch nicht gelang. Das Blut blieb aber an ihnen haften und aus diesem Grund ist das Gefieder des Rotkehlchens an seiner Kehle rot.5 Auch in einer niederländischen Legende findet sich eine ähnliche Geschichte. Hier wird ebenfalls vom am Kreuz genagelten Jesus berichtet, der durch das Tragen der Dornenkrone Schmerzen erleiden muss. Das Rotkehlen bemerkt dies und zieht ihm mit dem Schabel einen Dorn aus der Haut, woraufhin ein Bluttropfen auf das Gefieder des Vogels gelangt. Jesus spricht daraufhin: „Zum ewigen Gedächtnis, liebes Vögelein, sollst du und deine Nachkommen das rote Flecklein auf der Brust behalten, und die Menschen sollen euch Rotkehlchen nennen.“6 Da es sich bei diesen Sagen um den wallonischen und niederländischen Kulturraum handelt, ist es sicherlich möglich, dass Bosch, der selbst aus den Niederlanden stammte, diese Legenden bekannt waren oder zumindest in ähnlicher Weise. Dies würde sein Vorkommen als Motiv erklären. Ebenso könnte der ihm zugeneigte, nachdenklich wirkende Mensch der auf dem Distelfinken sitzt, das erwähnte „Gedächtnis“ symbolisieren und die Erinnerung an seine gutmütige Tat.  

Der Grünspecht 

Der Grünspecht ist ein Vogel, der in der Bibel nicht erwähnt wird. In der Concordantiae Caritatis hingegen gibt eine ausführliche Beschreibung zu ihm. Dort heißt es:  

Aristoteles sagt: Wenn in den Baum, in dem ein Specht nistet, ein eiserner Nagel eingeschlagen worden ist, dann springt er von selbst wieder heraus und fällt zur Erde. Als diesen Specht erkenne den Heiligen Geist: Wenn er in einem Baum, das heißt im Herzen eines lebenden Menschen, sein Nest gebaut hat, das heißt wenn er in ihm seine Gnade und sein göttliches Handeln zur Erzeugung einer Handlung in geistlicher Weise hat wohnen lassen wollen und seine Wohnstatt errichtet hat, dann wird der eiserne Nagel, d.h. das gewohnte Werk der Bosheit und Sünden, sofern er durch Verhärtung und Bosheit in dieses Menschen Herz eingehämmert gewesen ist, sogleich, d.h. ohne Aufschub, wieder herausspringen, d.h. wegen der Anwesenheit des Heiligen Geistes, die das Gewissen erleuchtet, vollständig fliehen und verschwinden. Laßt uns darum beten, daß sich dieser Vogel in uns niederlasse und die Gicht der Sünden von uns weit wegtreibe.7 

Hier wird der Vogel mit dem Heiligen Geist verglichen und metaphorisch betrachtet, im Herzen der Menschen zum Werkzeug gegen die Sünden. Volksmedizinische Erwähnungen über den Grünspecht bescheinigen ihm eine heilende Wirkung bei unterschiedlichen Beschwerden. So sagt eine alte deutsche Volksweisheit, man solle sich das Nest eines Grünspechtes um den Kopf binden wodurch die Kopfschmerzen für immer verschwinden sollen. In Tirol wurde das gutschmeckende Fleisch des Vogels zur Bekämpfung der Fallsucht angewandt und der Verzehr der Federn, sollte in Frankreich vor Bezauberung schützen.8  

Betrachtet man sich den Grünspecht im „Garten der Lüste“, bemerkt man die menschliche Figur, die auf seinem Körper sitzt und eine Art Glaskuppel auf dem Kopf trägt. Tatsächlich könnte an dieser Stelle die heilende Kraft bei Kopfscherzen thematisiert werden, jedoch ist dies nur eine mögliche These. Der christliche Zusammenhang in Bezug auf die Erwähnung in der Concordantiae Caritatis hingegen lassen sich schwieriger in die Bedeutung der Bildsprache integrieren. 

Der Wiedehopf 

Für den Wiedehopf findet sich lediglich im 3. Buch Mose (Lev 11, 13-19) der kurze Hinweis:  

Und diese sollt ihr verabscheuen unter den Vögeln, dass ihr sie nicht esst, denn ein Gräuel sind sie: den Adler, den Habicht, den Fischaar, den Geier, die Weihe mit ihrer Art und alle Raben mit ihrer Art, den Strauß, die Nachteule, den Kuckuck, den Sperber mit seiner Art, das Käuzchen, den Schwan, den Uhu, die Fledermaus, die Rohrdommel, den Storch, den Reiher, den Häher mit seiner Art, den Wiedehopf und die Schwalbe. 

Dieses, bereits weiter oben verwendetes Zitat verortet den Vogel in eine Kategorie der negativ behafteten Vogelarten und ist gleichzeitig die einzige Erwähnung in der Bibel. Im Phsyiologus hingegen heißt es über den Wiedehopf:  

Es gibt einen Vogel, der heißt Wiedehopf. Und seine Kinder, wenn sie sehen, daß die Eltern alt sind, reißen sie ihnen die alten Federn aus und lecken ihre trüben Augen und wärmen ihre Eltern unter ihren Flügeln und behandeln sie wie Junge, und so werden sie wieder jung. Sie sagen nun zu ihren Eltern: Wie ihr uns als Junge aufgezogen habt und euch bis zur Erschöpfung gemüht und uns gefüttert, so tun wir euch dasselbe. Und wie können Menschen so unverständig sein, daß sie nicht ihre eigenen Eltern lieben, die sie versorgen und in der Erkenntnis des Herren erziehen?9 

Diese Beschreibung seines Wesens entkräftet das negative Bild in der Bibel nicht nur, sondern versieht den Wiedehopf als ein Vogel mit Attributen besonders großer Güte und Hilfsbereitschaft. In diesem Zusammenhang ist auch möglicherweise der Wiedehopf in Boschs Werk zu betrachten, der hier in seinem Gefieder, schützend einen Menschen beherbergt, wie die Eltern ihr umsorgtes Kind. 

Die Ente 

Auch die Ente wird in der Bibel nicht erwähnt. In der mittelalterlichen Literatur hingegen taucht sie auf, jedoch als Tier mit negativ konnotierten Eigenschaften. So heißt es beispielsweise, dass man mit einer zahmen Lockente Enten fängt, was als Bild eine Anspielung auf den Teufel und die Personen sein soll, die dieser erst durch ihre Sünden fängt. Zudem wird die Ente als Tier beschrieben, dass sich im Kot ernährt, was so viel bedeuten soll, dass der Gottlose nur zeitliches Gut begehrt. An anderer Stelle ist von Enten und Gänsen die Rede, die auf den Grund von Gewässern tauchen, das Wasser abschütteln und mitunter Unrat im Schnabel haben. Im übertragenen Sinne soll dies für Menschen stehen, bei denen nichts vom Inhalt einer Predigt haften bleibt.10 Hier entsteht das Bild der Ente als „niederes“ Tier, was räumlich betrachtet im Gemälde visuell reproduziert wird. Möglicherweise ist auch die Sündhaftigkeit in ihr symbolisiert, in diesem Fall durch das küssende Paar auf dem Rücken des Tiers 

Der Eisvogel 

In der Bibel wird der Eisvogel nicht direkt erwähnt, findet sich aber in anderen christlichen Schriften des Mittelalters, wie in der Concordantiae Caritatis. Dort beschreibt man den Eisvogel mit den folgenden Worten: „Dieser wunderschöne Eisvogel ist Christus in seiner größten Vollkommenheit jeglicher Tugend und Gnade; die Federn seines Federkleides sind alle jene, die sich in Frömmigkeit auch mit dem überaus kostbaren Blut seines Leidens und Sterbens bewahren.11 Nach einem alten heidnischen Volksglauben nistet der Eisvogel auf dem Meer und sobald er dies getan hat verschwinden alle Stürme. Hieran schließt sich im Mittelalter die Vorstellung der „meerstillen Nester des Eisvogels als Sinnbild der Muttergottes.“12 Nach einer mittelalterlichen Sage, die sich an die biblische Erzählung zu Noah und die Taube anlehnt, wurde der dort genannte Wasserspecht vor der Taube entstand um das Land zu entdecken. Er flog jedoch so hoch, dass er in das Blau des Himmels eintauchte und so sein blaues Gefieder erhielt. Jedoch war er geneigt sich aus Neugierde so nah wie möglich der Sonne zu nähern, was ihm zum Verhängnis wurde da ein Teil seines Gefieders verbrannte und er sodann zur Erde hinabstürzte, um sich in den Fluten des Meeres zu kühlen. Aus diesem Grund besitzt er die roten Federn. Seinen Auftrag erfüllte er aber nicht, sondern die Taube, die Noah anschließend entsandte als der Wasserspecht nicht zurückkehrte.13 

In diesem Zusammenhang könnte der Eisvogel bei Hieronymus Bosch sowohl eine positive Bedeutung haben, wie der Vergleich zur Frömmigkeit Jesus oder als Sinnbild der Gottesmutter, aber auch eine negative Symbolik, als übermütiger Vogel, der seine Anweisungen nicht befolgt und sich dadurch selbst schadet. Leider gibt es auf dem Altar keinen zwingenden Hinweis auf die Deutung einer solchen Ikonographie an dieser Stelle, die einen eindeutigen Aufschluss geben könnte.  

Abschließende Bemerkungen  

Die hier und in den letzten beiden Blogeinträgen angeführten Beispiele der unterschiedlichen Vogelsymbole in der Bildenden Kunst und ihre dortige Manifestation skizzieren eine Bildsprache, die seit Jahrstausenden tradiert wird und sowohl bereits vorhandene Inhalte überträgt, als auch neue generiert und so das Bedeutungsspektrum erweitert. Der Weg in das kulturelle Gedächtnis der unterschiedlichen Kulturen, wie zum Beispiel die mythologischen Erzählungen und biblischen Schriften, fand hierbei nicht nur durch Sprache und Verschriftlichung statt, sondern ebenso über die visuelle Übertragung, die sich in Form verschiedener Kunstgattungen und den mannigfaltigen Vogelrepräsentationen dort äußerst.  

Selbstverständlich muss der Blick aufs Gefieder der in diesen Beiträgen benannten Gemäldevögeln ein flüchtiger sein, hoffentlich war er jedoch zugleich auch eine erste Annäherung daran, wie Kunstwerke mit ein- und verschiedenfarbigen Vogelfedern seit der Antike geschmückt und damit mit Bedeutung versehen wurden.  

 

Dieser Blogeintrag wurde verfasst von Philippe H. 


1 Belting, Hans: Hieronymus Bosch. Der Garten der Lüste. New York 2002, S. 21.

2 Belting (2002), S. 47.

3 Vgl. Gattiker, Ernst/Gattiker, Luise (1989), S. 54.

4 Belting (2002), S. 86.

5 Vgl. Gattiker, Ernst/Gattiker, Luise (1989), S. 92.

6 Gattiker, Ernst/Gattiker, Luise (1989), S. 92

7 de Campo Liliorum, Udalcrius/Douteil, Herbert: Die Concordantiae Caritatis des Ulrich von Lilienfeld: Edition des Codex Campililiensis 151 (um 1355). Münster 2010, Bd. 1, S. 255.

8 Vgl. Gattiker, Ernst/Gattiker, Luise (1989), S. 255.

9 Treu (1981), S. 20.

10 Vgl. Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500). Berlin 1968, S. 277 f.

11 de Campo Liliorum, Udalcrius/Douteil, Herbert (2010), Bd. 1 S. 293.

12 Gattiker (1989), S. 274.

13 Vgl. Ebd., S. 276.


Literaturverzeichnis

Barney  - Barney, Stephen: The Etymologies of Isidor of Seville. New York 2006. 

Belting - Belting, Hans: Hieronymus Bosch. Garten der Lüste. München 2002. 

Bernard - Bernard, Andreae: Antike Bildmosaiken. Mainz 2003. 

De Campo/Douteil - de Campo Liliorum, Udalcrius/Douteil, Herbert: Die Concordantiae Caritatis des Ulrich von Lilienfeld: Edition des Codex Campililiensis 151 (um 1355). Münster 2010, Bd. 1. 

Gattiker - Gattiker, Ernst/Gattiker, Luise: Die Vögel im Volksglauben. Eine volkskundliche Sammlung aus verschiedenen europäischen Länder von der Antike bis in die Gegenwart. Wiesbaden 1989. 

Hercher - Hercher, Rudolph: Claudius Aelianus, De natura animalium libri XVII, 2 Bd. Leipzig. 1864-66. 

Holzberg - Holzberg, Niklas: Ovid, Metamorphosen. Lt.-dt., hg. u. übers. v. N. Holzberg. Berlin/Boston 2017. 

Houtzager - Houtzager, Guus: Illustrierte griechische Mythologie Enzyklopädie. Eggolsheim 2006. 

Keel - Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Köln 1972. 

Lother - Lother, Helmut: Der Pfau in der frühchristlichen Kunst. Leipzig. Leipzig 1929. 

Luther - Luther, Martin: Die Bibel. übers. v. M. Luther. Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. 

Olbrich - Olbrich, Erhard: Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung. In: Lenz, Karl/Nestmann, Frank (Hgg,): Handbuch Persönliche Beziehungen. Weinheim 2009. 

Reimbold - Reimbold, Ernst Thomas: Der Pfau. Mythologie und Symbolik. München 1983. 

Roth-Bojadzhiey - Roth-Bojadzhiey, Gertud: Studien zur Bedeutung der Vögel in der mittelalterlichen Tafelmalerei. Köln 1985. 

Scherbaum - Scherbaum, Anna: Albrecht Dürers Marienleben. 2004. 

Schmidtke - Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (11001500). Berlin 1968. 

Simon - Simon, Erika: Die Geburt der Aphrodite. Berlin 1959. 

Trenner - Trenner, Florian/Hagendorn, Susanne: Christliche Tiersymbolik. München 2010. 

Treu - Treu, Ursula: Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung. Berlin 1981.